Der Kitt der Gegensätze
Lasst uns diesen Text dort beginnen, wo Städter und Landbewohner gleichermaßen zu Fuß hingehen: am Scheißhäusl. Beziehungsweise, um es eine Spur dezenter auszudrücken, am Klo vom Ebnerhof in Hinterwald.
Um welches Hinterwald es sich dabei handelt, sei aus Gründen der Anonymität hier nicht näher ausgeführt. Fakt ist, dass es in Österreich eine Handvoll Ortsteile mit dem Namen „Hinterwald“ gibt, was der symbolischen Ebene dieses Textes durchaus entgegenkommt, denn „hinterwäldlerisch“ ist ja jene Zuschreibung, die der gelernte Städter den Landeiern gerne als kategorischen Imperativ umhängt.
Doch der Ebnerhof in Hinterwald und sein Klo, die sind keineswegs nur symbolisch zu verstehen, sondern es handelt sich ganz konkret um die Kleinlandwirtschaft eines Großcousins meiner Frau in einem obersteirischen Bergdorf: Drei erwachsene Kinder, von denen zwei in der Region geblieben sind; zwei Kühe, denen die Namen „Gianna“ und „Janis“ gegeben wurden; zwei oder drei glückliche Schweine, ein paar Hühner und vermutlich auch – so genau weiß ich das nicht – ein paar Wiesen und ein, zwei Hektar Wald am Steilhang hinterm Hof.
Das große Geld verdienen sich der Ebnerbauer und seine Frau mit diesem Hof nicht, so viel ist klar. Das große Geld verdienen sich der Ebnerbauer und seine Frau auch mit ihren Zusatzberufen nicht, aber zum Leben reicht es, denn man kann auf sein Erbteil zählen: den Hof und den Grund dazu. Der Ebnerbauer ist ein drahtiger Mann, der 20 Jahre jünger ausschaut, als seine Geburtsurkunde vermuten lassen würde. Er arbeitet als Bergführer in den Tiroler Alpen. Seine Frau – ebenfalls in den Jungbrunnen gefallen – jobbt im Winter als Kinderschilehrerin in einem kleinen Familienschigebiet an der Grenze zwischen Salzburg und der Steiermark. Berufsbedingt sind die Ebnerleute also mit den Bergen und dem Tourismus verbandelt, und wer je einen ausreichend hohen Berg erklommen hat, weiß, dass dort oben der Horizont relativ weit wird.
Von daher ist es kein Wunder, was der Ebnerbauer sich als Leitspruch fürs Leben auf sein Klo gehängt hat: den ersten Absatz aus Kants Essay „Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung?“ Wer also beim Ebner zu Gast ist und nach reichlich Kaffee (mit frischer Milch von „Gianna“ und „Janis“) und Kuchen in der urig-gemütlichen Stube den Weg aufs Klo einschlägt, bekommt am stillen Örtchen eine kleine Nachhilfestunde in Sachen geistige Grundlagen Europas erteilt, fein säuberlich auf DIN A4 ausgedruckt und an der Klowand aufgehängt, sodass man die Sätze bei jeder Sitzung studieren kann:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Kants Sätze triggern mich immer, denn sie erinnern mich an mein Aufwachsen in der Provinz. Zwar hat die Gemeinde, aus der ich stamme, bereits unter dem Traungauer Ottokar IV. im ausgehenden 12. Jahrhundert das Stadtrecht erhalten. Aber anders als im Mittelalter, wo Stadtluft frei machte und das Maß der Unterdrückung durch Lehensherren minderte, indem es einen in die städtische Zunftordnung presste, eröffnete die Kleinstadtluft österreichischer Provinzgemeinden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt urbane Perspektiven.
Da mussten erst Kant und seine Idee der Aufklärung im Philosophieunterricht bei mir anklopfen, gefolgt von einem soliden geisteswissenschaftlichen Studium in der Landeshauptstadt, die damals – in den 1980ern – noch einen einschlägigen Ruf als verschnarchte k.u.k. Pensionopolis hatte. Das Studium mit seinen 14 Semestern könnte sich heute kein ECTS-getriebener Student mehr leisten, rein von der Zeit her. Ermöglicht wurde meine Transformation vom verschreckten Provinzler zum lesesüchtigen Germanisten mit literarischen Ambitionen von der Bildungspolitik Kreisky’scher Prägung. Seither sitze ich zwischen allen Stühlen. Vor allem aber zwischen den Stühlen von Großstadt und Provinz. Und hier, von meinem Zwischenplatz aus, verstehe ich vielleicht mehr von der Spannung, die zwischen den Sphären herrscht, als jene Leute, die in einem städtischen Haushalt aufgewachsen sind und das Land nur aus dem „Universum“ oder von Ausflügen zu südsteirischen Nobelbuschenschänken kennen – und umgekehrt: kenne ich mich besser in beiden Welten aus als die selbstgenügsamen Geister, die das Land als guten Humus für Schwurbeleien aller Art betrachten.
Das städtische Bürgertum hat im Match Stadt vs. Land allerdings einen entscheidenden Vorsprung: Es weiß, wie das Spiel läuft, denn es bestimmt die Regeln. Unser Staatswesen basiert auf der bürgerlichen Weltanschauung, und die wiederum auf der aufklärerischen Idee von der Gleichheit der (städtischen) Individuen. Im Lauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts befreite man sich in den Städten – unterstützt von einer kämpferischen Arbeiterbewegung – endgültig aus der feudalen Ordnung, schickte den altgedienten Adelsstand ins Ausgedinge und ersetzte ihn durch den bürgerlichen Kapital-, Geistes- und Bildungsadel, der in der Sozialdemokratie seinen proletarisches Echo erfuhr. Produktion, Handel und Bildung sind seither die Grundlagen für den sozialen Aufstieg.
Der gelernte Städter bürgerlicher Provenienz, aber auch der akademisch angelernte Städter provinzieller Herkunft begreift sich vor diesem Hintergrund als Blaupause für einen fortschrittlichen, weltoffenen, durch und durch aufgeklärten Menschen, der, wenn er ins Theater geht oder seine Lieblingszeitungen „Standard“, „Falter“, „profil“ und „Presse“ liest, gerne die Dummheit und Beschränktheit der Landbevölkerung angeprangert weiß – insbesondere dann, wenn es um die Wahlergebnisse und die deutlichen Unterschiede in den politischen Präferenzen zwischen Stadt und Land geht.
Genau an diesem Punkt nimmt der Kleinbauer mit Bergführerlizenz, der Kants Sätze auf dem Klo hängen hat, auf dass man täglich daran erinnert werde, nicht selten als ressentimentgeladene Oberg‘scheiterln wahr, gegen deren Zumutungen es nicht nur im Dorfcafé Einspruch zu erheben gilt. Das erklärt die emotionale Kraft, mit der viele Landgemeinden gegen das „urbane Establishment“ votieren. Wenn in FPÖ-Hochburgen in Oberösterreich, der Steiermark und Kärnten die Wahlbeteiligung steigt, ist das meiner Ansicht nach weniger Ausdruck rechtsextremer Gesinnung als ein Akt kultureller Selbstbehauptung. Man wählt, um gesehen zu werden – oder wenigstens, um die zu verärgern, die einen anscheinend übersehen.
Das Ressentiment, das daraus erwächst, ist nicht bloß reaktiv, sondern produktiv: Es erzeugt Identität. Der Landbewohner definiert sich nicht nur über Nähe und Herkunft, sondern auch über die Abgrenzung zur Stadt. Diese Abgrenzung strukturiert das Denken, sie verleiht Sinn und Richtung: „gegen die da oben“. Und „da oben“ meint immer auch die Hauptstadt und die Landtage und das Parlament. In gewisser Weise erfüllt diese Abgrenzung der Landbewohner die gleiche Funktion wie die moralische Selbstgewissheit der Bobos in Wien-Neubau und Umgebung, die politische Haltung als Teil des Lebensstils sehen: „Grün“ zu wählen bedeutet für sie, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – für Inklusivität und Diversität zu sein, gegen Ressourcenausbeutung, gegen Rechts.
Dabei folgt sowohl das das ländliche wie das städtische Ressentiment einer paradoxen Logik: Das Land verachtet die Stadt für ihre Arroganz, sehnt sich aber nach ihrer Aufmerksamkeit. Die Stadt wiederum sieht auf das Land herab und ist im Gegenzug fasziniert vom Potenzial der „Heimat“, Zugehörigkeit zu erzeugen. Diese wechselseitige Projektion schafft eine eigentümliche emotionale Ökonomie: Beide Seiten brauchen einander, um sich über das gegenseitige Zerrbild in der Eigenwahrnehmung zu stabilisieren.
Die Logik der Umstände
Wer Österreich und seinen Widerspruch zwischen Stadt und Land verstehen will, muss verstehen, dass das Land nicht die Peripherie der Stadt ist, sondern deren Gegenentwurf. Daher beginnt das Land auch nicht jenseits der Ketzergasse in Wien-Liesing, denn der Speckgürtel der größeren Städte ist nichts anderes als deren Verlagerung ins Umland. Und umgekehrt zeugt beispielsweise das „Aufsteirern“-Festival in Graz mit seinen Hunderttausenden Besuchern in Lederhosen und Dirndln von einem Kernbedürfnis, den Landhausstil mitten in der Stadt ausleben zu können. Selten wuselt es in den Gassen und Straßen von Graz derart wie am „Aufsteirern“-Wochenende im September.
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land zeigt sich in einer gegensätzlichen Logik der Existenz, die sich zwar auch an Diskursen und Utopien, aber viel stärker noch an den Umständen orientiert. Konkret: am Einfamilienhaus mit Garten und Trampolin versus Altbau-Mietwohnung mit Balkon. An U-Bahnen im Vier-Minuten-Takt versus Postbus maximal zwei Mal am Tag. Am Verbrenner versus E-Bike-Lastenrad. An der Nebenerwerbslandwirtschaft und Pendelei versus Schreibtisch im Großraumbüro. An 46 % Ausländeranteil versus 97 % Einheimischenanteil, in den sich temporär Touristen und Zweitwohnsitzinhaber mischen. Am 15 Minuten entfernten Großkrankenhaus mit spitzenmedizinischer Versorgung versus Hubschrauberflug bei Notfällen. An Mittelschule und Lehre statt Gymnasium und Studium. An Feuerwehr-Zeltfest und Maibaum-Umschneiden versus Burgtheater und Musikverein.
Diese Umstände resultieren in völlig unterschiedliche Lebenserfahrungen, und die wiederum speisen den pochenden Argwohn, unter dem sich Stadt- und Landbevölkerung gegenseitig beäugen. Und beide Herzen schlagen in meiner Brust. Mit anderen Worten: Ich bin mir selbst suspekt, wenn ich in der Stadt den Städter mime und am Land das naturverbundene Landkind.
Dabei stimmt es: Im Grunde meines Wesens bin ich ein Landei. Aufgewachsen an den bäuerlichen Ausläufern einer Kleinstadt am Rand der westlichen Welt. Das Beglückende an meiner Kindheit war die Freiheit zwischen Wiesen, Feldern und Wäldern. Die Sommernachmittage, an denen ich mit den anderen 14 Kindern aus der Nachbarschaft Völkerball am Vorplatz vom Trinkl-Bauern spielte. Die Streifzüge an der Feistritz und über die Äcker und Wiesen der Ebene zwischen Feistritz und Lafnitz, die die steirisch-burgenländische Grenze markierte. Der Dieselgeruch, der aus dem Steyr 188 meines Onkels aufstieg, wenn er mich beim Mähen mitfahren ließ.
Als ich in den 1970ern am Stadtrand von Fürstenfeld inmitten von Wiesen und Feldern aufwuchs, gab es 21 Bauernhöfe in unserer Straße. (Es war eine lange Straße, die lange nicht einmal asphaltiert war.) 50 Jahre später sind drei übriggeblieben. Auch der Hof meiner Großeltern wurde verkauft und von Hobbylandwirten übernommen. Die zwei Fichten neben dem Marterl vor dem Haus wurden gefällt, der Bauerngarten, den meine Großmutter pflegte, existiert schon lange nicht mehr, und die Streuobstwiese vor dem Hof wurde parzelliert und in Bauland umgewidmet. Unter den verbliebenen Bäumen verfaulen im Herbst die Äpfel, die keiner mehr aufklaubt. Wo ich bei meinem Onkel und meiner Tante jeden Abend die Milch holte und im Sommer mit Cousins und Cousinen im Heustadl Verstecken spielte, weiden jetzt ein paar vereinzelte Schafe, die am Wochenende von den neuen Besitzern verpflegt werden. Unter der Woche wirkt der Hof so verlassen wie die ausgestorbenen Ortszentren in jeder beliebigen Kleingemeinde in Österreich.
Denn abseits der inszenierten „Servus“-Hochglanzreportagen und touristischer Events präsentiert sich die Provinz sehr oft als trostloses Land. Vor allem in abgelegenen Bezirken wie dem Lungau oder dem steirischen Murau, wo hohe Abwanderungs- und erschreckende Selbstmordraten Hand in Hand gehen. Der Strukturwandel hat das Land so umgepflügt, dass es weitere Veränderungen reflexhaft abzulehnen scheint. So erklärt sich, dass in Gemeinden mit 0 % Ausländeranteil die Zustimmung zur FPÖ, die diesen Zustand als politischen Idealzustand betrachtet, am höchsten ist. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Karl Marx hat in vielem daneben gelegen, aber im historischen Materialismus lag er richtig.
Der demographische Wandel in der Stadt
In derselben Zeit, wo der Strukturwandel das Land vollkommen umgekrempelt hat, wurden die größeren Städte in Österreich vom demographischen Wandel erfasst. Als ich Mitte der 1980er zum Studium nach Graz kam, musste man in die Mensa vom „Afro-Asiatischen Institut“ in der Grazer Leechgasse gehen, um Bekanntschaft mit Menschen schwarzer Hautfarbe zu machen. Und der Griesplatz, heute liebevoll „Klein Balkan“ genannt, war das Eldorado für heimische Hackler und Strizzies. Bis der erste Kebap-Stand in der Murtropole eröffnete, verging noch ein ganzes Jahrzehnt. Auf den Straßen war es eine Seltenheit, einen Afrikaner zu sehen, von Frauen mit Kopftuch ganz zu schweigen.
Wien war da schon immer ein wenig bunter. Noch in den Nullerjahren kam ich mir bei Aufenthalten in der Bundeshauptstadt jedes Mal, wenn ich die U6 nahm oder in einen x-beliebigen Supermarkt ging und bei Fragen vom Deutsch radebrechenden Personal kaum verstanden wurde, wie ein absoluter Provinzler vor. Mittlerweile hat fast die Hälfte der Wiener Bevölkerung einen Migrationsvordergrund, und über ein Drittel der in Wien lebenden Menschen haben keine österreichischer Staatsbürgerschaft. Vielleicht herrscht unter den autochthonen Österreichern auch deshalb eine Sehnsucht nach dem Gestrigen, vermeintlich Authentischen und nach Urlauben am Bauernhof, wo das Heu noch mit dem Holzrechen auf EU-subventionierten Almflächen eingebracht wird. Und vielleicht zwängen sich die Städter beim „Aufsteirern“ und am Ausseer Kirtag deshalb in die Luxus-Hirschlederne und das Designerdirndl, damit sie den Wind, der resch durchs Land weht, unmittelbar spüren: den echten, frischen, kräftigen Bergwind, der einem in der Lederhose die Eier kühlt und im Dirndl um den Busen streichelt.
Servus in Stadt & Land, wo alles noch so kernig ist wie die Sprecherstimme, die uns beim „Land der Berge“ und dem „Universum in Rot-Weiß-Rot“ erklärt, wo das Unverfälschte noch erlebt werden kann. O-Ton einer vom ORF in Auftrag gegebenen und im Oktober 2025 ausgestrahlten „Land der Berge“-Folge, die unweit vom Ebnerhof in Hinterwald gedreht wurde: „Wenn im Sommer die Sennereien bevölkert sind, dann erhält das Bild seinen größten Zauber, und der Eindruck des Ganzen wird mächtig und tief.“[1]
Nur zu schnell verwandelt sich die mächtige Tiefe in geistige Untiefe. Und davor ist auch die urbane Bildungsschicht ziemlich anfällig geworden. Man kann das recht gut an den reflexhaften Zuschreibungen ablesen, die der gebildete Städter für die Landbewohner zur Hand hat. Die Wählerstimmen für Norbert Hofer bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016 und die Wahlerfolge der FPÖ bei den Nationalratswahlen 2017 und 2024 erklärten sich viele Leute in meinem Bekanntenkreis (allesamt Akademiker mit einem geisteswissenschaftlichen Studienabschluss) umstandslos damit, dass die Menschen am Land, die derlei Wahlentscheidungen treffen, einfach „dumm“ sind bzw. sein müssen. Doch damit bereiteten sie ihrerseits einer nicht gerade diffizilen Ursachenforschung die Bahn, sondern einem flachen Denken, das sich mit den eigenen Klischees begnügt.
Das Beglückende am Aufwachsen am Land waren die Freiräume in der Natur, bar aller elterlichen Vorschriften. Das Bedrückende am Aufwachsen am Land war die Kleinräumigkeit des Denkens, das an Vorschriften, Traditionen und Obrigkeitsgehorsam schnell an seine Grenzen gebracht wurde, wenn man nicht renitent genug war. Skurrilerweise hat die provinzielle Kleinkariertheit auf Umwegen über US-amerikanische Universitäten und dort ventilierte Ansichten als neues Spießertum Einzug ins Geistesleben Mitteleuropas gehalten. Kants Ideen etwa werden von einer Gruppe meinungsstarker Social-Media-Rädelsführer in Bausch und Bogen verdammt, weil sie von einem, wie es heißt, „Rassisten“ stammen.
Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Pfarrer, Lehrer und die gutsituierten Kleinstadtbürger waren in meiner Jugend die Instanzen der Provinz, die einem erklären wollten, wo es langzugehen hat. Vielleicht haben die Landbewohner heute genug von der jahrhundertelangen Gängelei durch „die da oben“. Vielleicht reagiert die Bevölkerung deshalb so allergisch auf Vorschriften und moralische Beeinflussungsversuche aller Art. Corona mit seiner Flut an Lockdowns, Ge- und Verboten war der Tropfen – nein: der Zuber –, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Seither legt sich die Landbevölkerung wieder quer. (Wie schon 2015, als Tausende Flüchtlinge vor den Grenzen standen und jeder, der nicht als Nazi gelten wollte, ins „Willkommen“ einstimmen musste.)
Auch in den Schwurbeleien und Feinbildern zeigt sich die spiegelbildliche geistige Beschaffenheit von Stadt und Land: Was am Land die Querdenker und Chemtrail-Gläubigen sind, spiegelt sich in der Stadt mit den Queeren und ihren teils verqueren Ideen von der sozialen Konstruktion allen Seins. Die geistige Enge, die in meiner Kindheit und Jugend die Provinz beherrschte, findet in hippen Stadtvierteln und am Wiener Volkstheater in der Konformität des kulturellen Meinungsmainstreams ihren Ausdruck. Die Welt lässt sich anhand von Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft wunderbar leicht in Unterdrücker und Unterdrückte, Opfer und Täter, Schwarz und Weiß einteilen. Es mag manchmal sinnvoll sein, die Kontraste hochzuschrauben, um Muster im Bild deutlicher zu erkennen, aber irgendwann sollten die Wahrnehmungsraster auch wieder feiner eingestellt werden, um nicht im Schwarzweißdenken hängenzubleiben. Oder im Wunderglauben, die korrekte/korrigierte Sprechweise könnte tatsächlich die Welt verbessern. Dafür allerdings habe ich das Kleingeistige der Provinz nicht hinter mir gelassen und habe nun, ach!, Germanistik, Philosophie und leider auch Pädagogik studiert, damit ich jetzt über genderfluide Pronomen diskutiere und mir den Aluhut der Gendersprache aufsetze.
Das Palisadendenken der Stadt
Und schon wieder bricht auf der Reise nach Jerusalem (in die Stadt der Städte) die Musik ab, und ich sitze zwischen den Stühlen. Ich bin zu sehr Realist, um an die Macht der Sprache zu glauben. Und ich schätze die Freiheit zu hoch, die einem Kants Aufklärung bietet, um mich von Denkvorschriften einhegen zu lassen. Das Bürgertum aber hat sein burgenhaftes Palisadendenken über Jahrhunderte verinnerlicht und an eine neue Generation weitergereicht, die sich als letzte ihrer Art empfindet. Im Selbstverständnis der bürgerlichen Oberschicht bzw. der mit Kritikastertheorien[2] gefütterten letzten Generation Z wähnt man sich immer noch als jene Instanz, die gesellschaftlich das Sagen hat, selbst wenn auf den Straßen von Favoriten die grauen Wölfe ihr Terrain abstecken, im 15. Hieb die Serben dominieren und in Wahrheit, global betrachtet, die Broker an den Börsen und die Bots aus dem Silicon Valley die Wirtschaft und damit unsere gesellschaftliche Grundlage neu formatieren.
In Bobostan aber trifft man sich auf Flat Whites und diskutiert über Feminismus, Stadtklima, Genderneutralität und das Aufkommen der Rechten. Es geht um Flugscham, Diversität, Veganismus und „globale Verantwortung“. Der urbane Habitus, um Pierre Bourdieu zu bemühen, besteht darin, Distanz zu allem Provinziellen zu wahren. Das Ländliche gilt als das Andere: bodenständig, aber rückständig; authentisch, aber leider rechts. In der Stadt hingegen ist man progressiv, in jeder US-Theorie bewandert und gut vernetzt – aber selten außerhalb des eigenen Milieus.
Stadt und Land sind Echoräume, in dem Gleichgesinnte sich gegenseitig bestätigen. Diese kulturelle Selbstbeschreibung hat einen Preis: Sie ist exklusiv. Wer am Land nicht bei den richtigen Vereinen dabei ist, wird nie dazugehören. Wer in der Stadt nicht die richtigen Begrifflichkeiten bedient, wird exkommuniziert. Ein Hackler, der – rein hypothetisch – auf einer Premierenfeier in Wien oder Graz oder Salzburg versuchen würde, sich in eine Diskussion über „Intersektionalität“ einzubringen und dabei in Frage stellt, welche Relevanz queere Themen für das Leben der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung haben, würde erleben, wie schnell aus moralischer Offenheit soziale Kälte werden kann. Denn gerade die sogenannte „Inklusivität“ wirkt, wie der deutsche Soziologe Steffen Mau in seiner Studie „Triggerpunkte“ erkannte, hochgradig exkludierend: Sie schließt alle aus, die sich nicht an die Codes der geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen GSK-Elite halten (wollen) oder mit dem entsprechenden Vokabular schlicht nichts anfangen können.
Am Land gelten andere Codes. Der Rhythmus des Lebens wird nicht von U-Bahnplänen und Premierenfeiern bestimmt, sondern von Witterung, Vereinsterminen und dem Wochentakt der Pendelei. Oder auch – wie bei den Ebners in Hinterwald – vom Stallgehen und den Tourismussaisonen. Hier zählt nicht die moralische Pose, sondern die Verlässlichkeit: Wer bei der freiwilligen Feuerwehr ist und beim Auspumpen mithilft, wenn in einem Haus durch Starkregen der Keller überflutet wird, hat mehr Credibility als jede*r, der*die die Buchstaben des queeren Alphabets auswendig vor sich hersagen kann oder beim Wort „Nigger“ laut vor Empörung aufschreit, selbst wenn es in einem Text von James Baldwin vorkommt und von diesem in voller Absicht ausbuchstabiert wurde.
Ob man Stadt oder Land bewohnt, ist somit weniger eine Frage der Postleitzahl als vielmehr der geistigen Einstellung. Und in dieser Hinsicht haben sich leider die Kulturlandschaften des Bürgertums – die Theater und Lesezirkel, die neoliberalen Social-Media-Kanäle und die medialen Zwitscherblasen, in denen ich mich bewege – in eine furchtbare Provinz verwandelt, die einen auf die gleiche Weise erzieherisch anagitiert, wie es einst Pfarrer und Lehrer am Dorf getan haben.
Provinzrealismus und Abwehrhaltung
In dieser Hinsicht bin ich sturer Provinzler geblieben. Mein Provinzrealismus, wenn man ihn so nennen will, besteht in der Einsicht, dass eine bessere Welt nicht durch Schwadronieren entsteht. Oder davon, dass Sprache die Welt prägen würde. Dieser Glaube ist, wie ich nach 40 Jahre beruflicher Beschäftigung mit Sprache zu erkennen meine, ein Hirngespinst, das aus den Spinnenfäden kognitiver Verzerrungen gewebt wurde. Ich will damit nicht behaupten, dass das Land der Stadt weltanschaulich überlegen wäre. Aber der Pragmatismus der Landbewohner tendiert weniger dazu, sich etwas vorzumachen, als der Erweckungsgeist der urbanen Eliten, der zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Hoffnung und Zukunftsangst irrlichtert und immer auf die Social-Media-Likes schielt, die man mit einer Aussage generieren könnte.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Die sozialen Medien mit ihrer geballten Schwarm-Unintelligenz wirken in diesem Sinn wie gigantische Anti-Aufklärungsmaschinen. Keine noch so abstruse Theorie, die darin nicht Millionen Follower in ihren Bann ziehen würde – vor allem, wenn es gegen ein ominöses Feindbild geht, das die Welt beherrscht: der tiefe Staat, das Weltjudentum oder generell: „die da oben“.
Auf dem Land ist Oppositionsdenken zur politischen Kategorien geworden. Wer am Land lebt, weiß aber auch, dass keine Regenbogenparade das Wetter beeinflusst, kein veganer Diskurs die Klimaerwärmung verhindert, kein Hashtag das Einkommen ersetzt. Das erzeugt einen nüchternen Blick auf Politik: Sie wird nicht als moralische, sondern als administrative Angelegenheit verstanden. Deshalb reagieren viele Landbewohner allergisch auf den missionarischen Ton, der aus den Städten herüberschallt. Wenn Öko-Aktivisten fordern, dass jeder seinen Lebensstil „überdenken“ müsse, hört der Landbewohner nicht Idealismus, sondern Belehrung. Er spürt in solchen Appellen die Hierarchie, die mitschwingt: die kulturelle Dominanz der Stadt, die vorgibt, wie Zukunft zu denken sei. Reaktanz ist das Wort der Stunde: die Abwehrhaltung gegen wahrgenommenen Beeinflussungsdruck.
Diese Abwehrhaltung fußt nicht in intellektueller Trägheit (vulgo Dummheit), sondern ist ein Verteidigungsreflex. Damit schützt sich ein Bewusstsein, das sich zunehmend als belächelt empfindet. In Österreich, das in seiner politischen Symbolik immer noch stark Wien-zentriert ist, gilt ländliche Normalität in der Regel als Defizit. (Außer für die FPÖ, die sich gerne „unters Volk“ mischt.) Wer am Land lebt – oder gar in Hinterwald –, lebt aus Sicht der urbanen Eliten hinterm Mond. So als hätte mittlerweile nicht in jeder noch so einschichtigen Gegend der Glasfaseranschluss Einzug gehalten.
Gemeinschaft und Gesellschaft der Singularitäten
Ferdinand Tönnies‘ klassische Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ trifft das Wesen der Provinz auch nach fast 140 Jahren noch ziemlich gut. Am Land funktioniert Zusammenleben über Nähe und Gemeinschaft – eine ehemals dichte soziale Textur, die Sicherheit und Kontrolle zugleich bedeutet, aber im digitalen Zeitalter immer fadenscheiniger wird. Wer im Dorf etwas tut, tut es immer vor den Augen anderer. Das hält die Gemeinschaft zusammen, beschränkt aber auch. Der Städter, der sich zunehmend in einer Gesellschaft der Singularitäten (© Andreas Reckwitz) bewegt und als soziales Splitterwesen empfindet, idealisiert diese Nähe oft als „Authentizität“, ohne zu begreifen, wie anstrengend sie sein kann. Sie bedeutet, dass jede Abweichung registriert und mit Ausschluss geahndet wird.[3] Das ist im globalen Dorf der Likes und Shitstorms allerdings auch nicht anders: Wer zu sehr aus der Reihe tanzt, verliert die Zugehörigkeit. Im analogen Leben kann das jeder bestätigen, der ein „unnützes“ Studium absolviert hat und versucht, damit am Land zu punkten. Auch ambitionierte Kulturprojekte beißen sich in den Regionen oft die Zähne aus. Das liegt nicht am mangelnden Willen ihrer Proponenten, sondern am Risiko sozialer Sanktion. Der Strukturkonservatismus des Landes geht vermutlich weniger auf eine politische Ideologie zurück. Er ist vielmehr eine Überlebensstrategie, denn Veränderung gefährdet Bindungen, und Bindungen sind die Währung, in der soziale Sicherheit jenseits der Städte ausgezahlt wird. Diese Haltung kann bieder wirken, sie ist aber auch eine Form von Freiheit – nämlich von jener moralischen Überspanntheit, die das urbane Leben der intellektuellen Führungsschicht abverlangt. Denn dort gilt es, 24/7 Haltung zu zeigen. Eine moralische Pose einzunehmen. Mit den richtigen Buzzwords Auskennertum zu signalisieren. – Wie unverkrampft und entspannt wirkt dagegen das Land.
Die Ironie der Abhängigkeit
Es ist eine subtile Ironie, dass Stadt und Land ohne einander gar nicht existieren könnten. Die Wiener Bobos brauchen das Land, um ihre progressive Identität zu bestätigen; das unter Druck geratene Land braucht Wien, um seine eigene Authentizität zu fühlen. Der Städter lebt moralisch über der Provinz, der Landbewohner praktisch unter der Stadt. Und beide profitieren davon, sich gegenseitig zu beobachten, zu kritisieren und heimlich zu bewundern. Beide missverstehen sich ständig – und genau darin liegt die Stabilität des Geflechts aus Gegensätzen, in dem sich die österreichische Nation gemütlich eingerichtet hat.
So sind wir, nicht?
Nur eine stetig wachsende Gruppe steht in diesem Geflecht merkwürdig quer: die Zuwanderer. Sie gehören weder eindeutig zur Stadt noch zum Land, und doch sind sie in beiden Sphären unverzichtbar. In Wien und den größeren Städten bilden sie das Fundament der Dienstleistungsökonomie, in den ländlichen Regionen sichern sie jene Arbeit, die immer weniger Einheimische selbst verrichten wollen – im Tourismus, in der Pflege. Sie sind zugleich sichtbarer Teil der Gesellschaft und ihr blinder Fleck: gebraucht, aber selten gemeint, wenn von „wir“ die Rede ist. Für das Bildungsbürgertum dienen sie als Beweis ihrer Weltoffenheit, für die Arbeiterschicht und die Landbewohner als Projektionsfläche ihrer Ängste. Und so übernehmen sie unfreiwillig eine dritte Rolle im nationalen Theater der Abgrenzungen. Vielleicht ist ihre Präsenz das ehrlichste Spiegelbild der österreichischen Identität: ein Dazwischen, das weder gefeiert wird noch in seiner Tragweite medial repräsentiert ist, aber ohne das unser Sozialgefüge, das sich gerne auf die Binarität von Stadt und Land bezieht, bereits zusammengebrochen wäre.
Sapere aude!
Und zum Abschluss schön abspülen und die Hände waschen.
[1] Wer, zum Teufel, textet solche Schmafu-Zeilen? Und warum, zum Teufel, gibt’s in der ORF-Redaktion keinen, der dergleichen Kitsch aus der Doku streicht?
[2] Critical Race Theories, Gender Studies, Queer Studies …
[3] Das ist im globalen Dorf der Likes und Shitstorms auch nicht anders.